Rojava oder die Bewährung in der Praxis
Diskussionsbeitrag des Internationalen Sekretariates RHI

Rojava oder die Bewährung in der Praxis<br>Diskussionsbeitrag des Internationalen Sekretariates RHI

Sie revolutionäre Linke ist in Europa überall in der Defensive.
Auch dort wo die Massen kämpfen und widerstand leisten, ist die revolutionäre Linke marginal geblieben. Sie war unfähig diese Kämpfe und Widerstände zu begleiten und sie auf das Terrain eines revolutionären Projekts zu bringen.
Diese Unfähigkeit bildet die politische Realität von fast zwei Generationen von AktivistInnen. Diese Unfähigkeit eine lebendige und intensive Beziehung zwischen Massenmobilisierungen und revolutionärem Projekt zu entwickeln führt dazu, dass sich die revolutionäre Linke selbst deformiert und verstümmelt.
Es geht nicht darum, dass schlicht das „know-how“ der Beziehung zwischen den gesellschaftlichen Kämpfen und der revolutionären Arbeit verloren geht.
Es ist gravierender.
Diese Kultur der Schwäche und der Ohnmacht bringt zwei Typen von Rückschritten mit sich:
1. Die Aufgabe von revolutionären Positionen – wohl bekanntes Phänomen.
2. Die Fetischisierung einer Position der „revolutionären Reinheit“ – ein unterschätztes Phänomen. Da wir hier unter RevolutionärInnen diskutieren, werden wir nur von Letzterem sprechen.

Da das revolutionäre Projekt während Jahrzehnten nur im Aktivismus der revolutionären Gruppen existierte, ohne ein lebendiges Echo in Massenbewegungen zu finden, lassen sich die Positionierungen nur anhand von zwei Kriterien definieren:
1. Die Beziehung zu Modellen/Konzepten
2. Die Übereinstimmung mit der Theorie
Und mehr und mehr verknöchert sich das Projekt zur Identität und die Ursache wird mit der Wirkung verwechselt.
Ein Konzept von „revolutionärer Reinheit“ setzt sich in den Köpfen und dient als Analyseraster.
Dieses Konzept „revolutionärere Reinheit“ ist indes in den verschiedenen politischen Strömungen ein jeweils anderes: Bei den AnarchistInnen kann es eifn Kampf sein, der Kompromisse mit jeglicher Form von Autorität ausschliesst – bei den MarxistInnen könnte es ein Kampf sein, der einen rein proletarischen Charakter hat.

Eine revolutionäre Erfahrung wird in Bezug auf ein solches Modellprojekt beurteilt, und nicht nach den einzigen zwei Kriterien, die – wenn sie vereint sind – eine Erfahrung als authentisch revolutionär charakterisieren können:
1. Das Voranbringen externer Befreiung (über die Erkämpfung von sozio-geographischen Räumen der Emanzipation gegenüber den bourgeoisen und reaktionären Kräften).
2. Das Voranbringen interner Befreiung (über die Weiterentwicklung der sich ergänzenden revolutionären Werte: Soziale Gerechtigkeit und Selbstbestimmung).
Wir sagen „wenn sie vereint sind“ da das erste Kriterium, getrennt vom zweiten, der Etablierung neuer Herrschaftsverhältnisse, die Türe öffnet und das zweite Kriterium, isoliert vom ersten, die RevolutionärInnen in einem Ghetto einschliesst.
Wir sprechen dann von einer wirksamen Positionierung, von einer wirksamen Strategie, von einer wirksamen Analyse, wenn sie diese Kriterien am besten zu erfüllen vermag.

Die soziale, historische, ökonomische, kulturelle Realität verändert sich.
Das Neue erscheint, das Alte vergeht. Theorien und Konzepte müssen laufend angepasst und verifiziert werden.
Die Geschichte der revolutionären Bewegung ist auch die Geschichte von der Entdeckung und dem Experimentieren mit neuen Analyseinstrumenten, neuen Organisationsformen, neuen Taktiken und neuen Strategien.
Wir müssen auf dieses Erbe aufbauen, um nicht die Fehler der Vergangenheit zu reproduzieren und um die richtigen Positionierungen (d.h. die wirksamen) zu finden.
Aber wenn die neuen Begebenheiten nur mit dem Licht alter Analyseinstrumente und alter Modelle betrachtet werden, dann wird das Ziel durch die Mittel und das revolutionäre Projekt durch eine revolutionäre „Identität“ ersetzt – eine „Identität“ die nur akzeptiert, was dem „rein“ revolutionären Modell entspricht.

In Europa wird die Erfahrung Rojava manchmal idealisiert.
Ebenso haben wir von kategorischer Ablehnung gehört.
In beiden Fällen hat ein Konzept „revolutionärer Reinheit“ zugeschlagen:
Im ersten Fall wird geglaubt das Konzept „revolutionärer Reinheit“ endlich als Konkretisierung zu erkennen.
Im zweiten Fall werden die Aspekte denunziert, welche dem Konzept nicht entsprechen.
Die Idealisierung wird in Desillusionierung münden. Die Verurteilung hat einen perverseren Effekt: die Nicht-Einmischung.

Wir denken nicht, dass die Erfahrung Rojava perfekt ist, von Kritik ausgenommen ist, keine politischen Risiken birgt etc.

Aber wir denken:

1. Dass keine revolutionäre Erfahrung perfekt ist, von Kritik und politischen Risiken frei ist. Die Kritik, die wir hören, welche ein Nicht-Engagement rechtfertigen soll, hätte auch ein Nicht-Engagement während der Pariser Kommune oder während dem Krieg in Spanien begründen können.

2. Diese Kritiken gehen nicht von realen Erfahrungen der lokalen Situation, von einer konkreten Auseinandersetzung mit der konkreten Erfahrung aus. Sie gehen von alten „Lesearten“ aus, welche nicht unbedingt adäquat sind. Die Erfahrung Rojava ist auf verschiedenen Ebenen neu. Der einzige Weg sie zu verstehen, ist sich hineinzubegeben.

3. Es handelt sich nicht um einen „Sprung ins Unbekannte“. Kommunistische Organisationen wie die MLKP engagieren sich darin und rufen dazu auf, sich zu beteiligen. Das sind ernstzunehmende Organisationen, die eine Verbindung mit der lokalen Situation haben. Bis wir eine eigene Einschätzung haben, sind ihre Entscheidungen ein guter Anleitung für unsere eigenen Entscheidungen.

4. Die Erfahrung Rojava ist in Bezug auf mehrere Aspekte innovativ (Präsenz von verschiednen Kräften etc.) und wir müssen diese verstehen, um davon lernen zu können. Auf einer externen Position der kritischen Distanz zu bleiben, ist nicht nur arrogant, es bedeutet auch die Möglichkeit zu verwerfen, neue Organisations- und Kampfformen zu verstehen.

5. Rojava sind nicht die Philippinen oder Kolumbien. Was dort passiert, beeinflusst die Situation in Europa auf mehreren Ebenen:
a) Daesh geht in Europa gegen die Volksmassen vor. Dies beeinflusst deren Bewusstsein in einem reaktionären Sinn (rassistisch, islamophob, sicherheitsfanatisch, etc.). Die KämpferInnen von Rojava erlauben uns zu sagen, dass Assad oder die NATO nicht die einzigen Feinde des IS sind, sondern dass eine Massenbewegung im Mittleren Osten, auf progressiver Basis an vorderster Front gegen den IS kämpft. Ohne diese Präsenz würden die von Daesh getroffenen Massen der europäischen Länder die Tendenz haben, mit ihren Regimes einen Block zu bilden. Ohne diese Präsenz der KämpferInnen in Rojava würden die faschistischen Thesen (arabisch = islamistisch etc.) Terrain gewinnen.
b) Die Vernichtung der fortschrittlichen Erfahrung Rojavas würde den gesamten Mittleren Osten entweder den mit dem Imperialismus verbundenen „laizistischen“ Diktaturen überlassen oder den islamistischen Banden. Dies würde nicht nur eine Katastrophe für die Massen des Mittleren Ostens bedeuten, sondern auch zu einer weiteren Verbreitung von reaktionären Positionen in den emigrierten Massen muslimischer Herkunft führen.
c) Die Vertiefung des Konflikts, kann sich auf Europa ausdehnen: Die Repression gegen Organisationen, welche Teil der HDPH sind (also der gesamten revolutionären Linken der Türkei), Konfrontationen innerhalb der türkischen und/oder arabischen Gemeinschaften (insbesondere in Deutschland), Flüchtlingsströme, etc.

Neben den genannten Faktoren, die sehr stark für die Unterstützung und Solidarität mit Rojava sprechen, gibt es noch andere tatsächlich kritikwürdige Punkte (welche aber auch analysiert und relativiert werden können):
1. Die Gefahr der bourgeois-nationalistischen Strömung innerhalb der PKK und die Art und Weise wie diese die Orientierung der PYD beeinflussen könnte.
2. Die schwache Ausprägung des sozialistischen Charakters in der Erfahrung Rojava (Problem der Vergesellschaftung der Produktionsmittel etc.).
3. Die Kollaboration mit den Luftschlägen der NATO.
Gnädigerweise sparen wir hier gewisse Kritiken aus (welche aber tatsächlich formuliert wurden), wie der zum Beispiel der Vorwurf, dass die Massenorganisationen Rojavas keinen Veganismus propagieren.

Auf diese Punkte antworten wir:
1. Sich als Teil der revolutionären Linken aufgrund der Gefahr einer Rechtstendenz nicht zu engagieren, bedeutet schlicht eine „selbsterfüllende Prophezeiung“ zu provozieren. Wenn die Linke nicht ihr ganzes Gewicht in die Waagschale wirft, wird die Rechte gewinnen – zwangsläufig. Aber jene, die nicht interveniert haben, werden dann auch nicht das Recht haben zu sagen „wir hatten recht“, denn mit ihrer Untätigkeit haben sie die Bedingungen des von ihnen „vorhergesagten“ Scheiterns geschaffen. Die Gefahr einer Rechtswende ist ein Grund zu intervenieren und die kommunistischen Kräfte zu stärken und nicht ein Grund, sich herauszuhalten und diese Kräfte aufzugeben.
2. Der Charakter der Vergesellschaftung vollzieht sich auf spezifische Art und Weise, welche nur vor Ort beurteilt werden kann. Einfach nur die alten Raster anzuwenden (welche für eine sozio-ökonomische Realität fernab von Rojava geprägt sind) hat keinen Sinn. Es ist nur möglich sich zum Stand der Vergesellschaftung in Rojava zu äussern, wenn der Einfluss, der Fortschritt und die Misserfolge der Bewegung zur Schaffung von Kooperativen analysiert wird. Eine solche Einschätzung wurde von jenen, welche eine Nicht-Einmischung auf den „Mangel sozialistischer Charakteristika“ stützen, nicht unternommen.
3. Die Situation in Syrien ist eine derartige Mischung von Beteiligungen und Agenden, dass zufällige Übereinstimmungen von Interessen nicht zu vermeiden sind. Die USA greifen den IS aus Gründen an, welche im US-Imperialismus zu suchen sind. Die Kräfte Rojavas greifen den IS aus Gründen an, welche dem Befreiungsprozess in Rojava eigen sind. Es geht sogar in die richtige Richtung, wenn von den US-Bomben profitiert wird und das Blut unserer KämpferInnen zu schonen und die Befreiung der von Daesh unterdrückten Massen zu erleichtern. Die Position der Reinheit, welche eine Zusammenarbeit ablehnt ist ganz einfach kriminell. Der antifaschistische Widerstand hat damals auch die Bombardements der britischen und US-amerikanischen imperialistischen Kräfte unterstützt und zu den Nazi-Zielen geführt. Das entscheidende ist, eine eigene Agenda zu haben und eine eigene Strategie.
Die „revolutionäre Reinheit“ würde jede Waffenruhe mit dem Regime verbieten, doch diese Waffenruhe ist eine Bedingung des Überlebens, und sie ist weit weniger „beschämend“ als der Friede von Brest-Litowsk.

Aber jenseits der Richtigkeit der Kritiken, gilt ohnehin die Frage: Mit welchem Ziel wird Kritik geübt?
Man nähert sich einer Realität, welche eine revolutionäre Dimension beinhaltet, nicht indem man ein gutes oder ein schlechtes Zeugnis erteilt. Das ist arrogant, nutzlos und es hat nichts mit Politik zu tun. Es ist so politisch, wie im Cafe zu plaudern. Der Einfluss auf die Realität ist nichtig.
In einer Kriegssituation wie in Rojava (oder im Donbas) gibt es für die RevolutionärInnen nur zwei mögliche Positionierungen:

1. Entweder man kommt zur Einschätzung, dass es sich um einen inner-bourgeoisen, inter-imperialistischen krieg handelt. Dann müssen beide Seiten verurteilt werden.

2. Oder aber man kommt zur Einschätzung, dass eine Seite die unsere ist und die andere (oder mehrere andere) feindlich sind. Dann müssen wir unsere GenossInnen aktiv unterstützen.
Das bedeutet nicht auf Kritik zu verzichten und es heisst auch nicht, auf seine eigene Agenda zu zu Gunsten jener des wichtigsten Protagonisten unserer Seite (im Fall Rojava: die PYD) zu verzichten.
Es will nur heissen: politisch handeln, sich in der Realität befinden, um diese zu transformieren, wirksam sein.
Internationales Sekretariat RHI August 2016